von Dr. Hermann Geißler FSO:
Benedikt XVI. hat zeitlebens mit Bewunderung zu John Henry Newman aufgeschaut und sich von seinem Denken inspirieren lassen. Eine tiefe geistliche Freundschaft verband ihn mit dem englischen Heiligen, der von Leo XIV. am 1. November 2025 zum Kirchenlehrer ernannt worden ist.
1. Erste Bekanntschaften mit Newman
Joseph Ratzinger trat 1946 in das Freisinger Priesterseminar ein. Drei Persönlichkeiten machten ihn dort mit Newman vertraut. Da war zuerst Alfred Läpple, der den jungen Theologen im Seminar als Präfekt zugeteilt wurde. Läpple arbeitete an einer Dissertation über das Gewissen, das Adolf Hitler mit Füßen getreten hatte: „Die ungeheure Verwüstung des Menschen, die daraus folgte, stand uns vor Augen. So war es für uns befreiend und wesentlich zu wissen, dass das Wir der Kirche nicht auf dem Auslöschen des Gewissens beruhte, sondern genau umgekehrt sich nur vom Gewissen her entwickeln kann. Gerade weil Newman die Existenz des Menschen vom Gewissen her, das heißt im Gegenüber von Gott und Seele deutete, war aber auch klar, dass dieser Personalismus kein Individualismus ist und dass die Bindung an das Gewissen keine Freigabe in die Beliebigkeit hinein bedeutet – das Gegenteil ist der Fall.“[1]
Kurz darauf begegnete der junge Seminarist einem zweiten Newman-Experten: „Als ich 1947 in München mein Studium fortsetzte, fand ich in dem dortigen Fundamentaltheologen Gottlieb Söhngen … einen belesenen und begeisterten Anhänger Newmans. Er erschloss uns die Grammar of Assent und mit ihr die besondere Weise und Gewissheitsform religiösen Erkennens.“[2] Bei Professor Söhngen, einem großen Kenner Newmans, verfasste Joseph Ratzinger später seine Habilitationsschrift.
Einige Jahre später wurde er von einem Beitrag getroffen, den Professor Heinrich Fries im Zusammenhang mit dem Jubiläum des Konzils von Chalkedon (451) veröffentlicht hatte: „Hier fand ich den Zugang zu Newmans Lehre von der Entwicklung, die ich neben seiner Gewissenslehre als seinen entscheidenden Beitrag zur Erneuerung der Theologie ansehe. Mit ihr hat er uns den Schlüssel in die Hand gegeben, geschichtliches Denken in die Theologie einzubauen oder vielmehr: er hat uns gelehrt, Theologie geschichtlich zu denken und gerade so die Identität des Glaubens in allen Verwandlungen zu erkennen.“[3] Gewissen, Glaubensgewissheit und Entwicklung: Diese drei Kategorien der Theologie Newmans fanden im Denken Joseph Ratzingers einen fruchtbaren Boden und ein lebhaftes Echo.
2. Ausdrucksformen einer geistlichen Freundschaft
Als Kardinal beschäftigte sich Joseph Ratzinger ausführlicher mit Newmans Gewissenslehre. In einer Studie über das Verhältnis zwischen Gewissen und Wahrheit geht er von der Tatsache aus, dass das Gewissen heute oft mit der subjektiven Gewissheit identifiziert und von den objektiven Ansprüchen der Wahrheit losgelöst wird. In diesem Zusammenhang ist Newmans Gewissensbegriff von großer Relevanz: „Gewissen bedeutet für Newman nicht die Maßstäblichkeit des Subjekts gegenüber den Ansprüchen der Autorität in einer wahrheitslosen Welt, die vom Kompromiss zwischen Ansprüchen des Subjekts und Ansprüchen der sozialen Ordnung lebt. Es bedeutet vielmehr die vernehmliche und gebieterische Anwesenheit der Stimme der Wahrheit im Subjekt selbst; Gewissen ist die Aufhebung der bloßen Subjektivität in der Berührung zwischen der Innerlichkeit des Menschen und der Wahrheit von Gott her.“[4] Der Mensch muss seinem Gewissen folgen. Gegen das Gewissen handeln, ist Sünde. Gewissen bedeutet aber gerade nicht, dass jeder Mensch seine eigenen Maßstäbe bestimmt, sondern dass er sich in seinem Innersten für das Gute, das Wahre, für Gott öffnet und sich danach ausrichtet. Wie Newman zeigt, ist das Gewissen der Anwalt der Wahrheit im Herzen des Menschen.
Newman war für Kardinal Ratzinger auch ein echtes Vorbild. Als Peter Seewald ihm einmal die Frage stellte, ob er „ein Mann des Gewissens“ sei, antwortete er: „Ich versuche es zu sein. Ich wage nicht zu behaupten, dass ich es bin. Aber das scheint mir schon ganz wichtig, dass man nicht die Billigung oder auch das nette Gruppenklima über die Wahrheit stellt. Natürlich kann der Gewissensappell in Rechthaberei umschlagen, dass man glaubt, in allem dagegen sein zu müssen. Aber im richtigen Sinn verstanden ist ein Mensch, der auf das Gewissen hört und für den dann das Erkannte, Gute über die Billigung und der Akzeptanz steht, für mich wirklich ein Ideal und eine Aufgabe. Und Gestalten wie Thomas Morus, Kardinal Newman und andere große Zeugen […] sind für mich große Vorbilder.“[5]
Weil Benedikt XVI. in Newman einen geistlichen Freund sah, war es ihm eine große Freude, ihn 2010 zur Ehre der Altäre erheben zu können. Um ihn gebührend zu ehren, reiste er nach Großbritannien, leitete am Vorabend im Londoner Hyde Park eine Gebetsvigil und sprach Newman im Rahmen einer Festmesse in Birmingham am 19. September 2010 selig. Im Hyde Park sagte er: „Schon lange hat Newman, wie ihr wisst, mein eigenes Leben und Denken in besonderer Weise beeinflusst, wie er es bei so vielen Menschen über diese Inseln hinaus getan hat. Das Drama von Newmans Leben lädt uns ein, unser Leben zu überprüfen, es vor dem weiten Horizont der Pläne Gottes zu betrachten und in der Gemeinschaft mit der Kirche aller Zeiten und aller Orte zu wachsen: der Kirche der Apostel, der Kirche der Märtyrer, der Kirche der Heiligen, der Kirche, die Newman liebte und für deren Sendung er sein ganzes Leben einsetzte.“[6]
3. Bedeutung Newmans für unsere Zeit
Benedikt XVI. sprach bei verschiedenen Gelegenheiten über die bleibende Relevanz Newmans. Als ersten Aspekt erwähnte er die stets notwendige Bekehrung zum Glauben an den lebendigen Gott. Er erinnerte an Newmans erste Bekehrung im Alter von 15 Jahren und kommentierte: „Bis dahin dachte Newman wie der Durchschnitt der Menschen seiner Zeit und wie auch der Durchschnitt der Menschen von heute, die Gottes Existenz nicht einfach ausschließen, aber sie doch als etwas Unsicheres ansehen, das im eigenen Leben keine wesentliche Rolle spielt. Als das eigentlich Reale erschien ihm wie den Menschen seiner und unserer Zeit das Empirische, das materiell Fassbare. Dies ist die ‚Realität‘, an der man sich orientiert. Das ‚Reale‘ ist das Greifbare, sind die Dinge, die man berechnen und in die Hand nehmen kann. In seiner Bekehrung erkennt Newman, dass es genau umgekehrt ist: dass Gott und die Seele, das geistige Selbstsein des Menschen, das eigentlich Wirkliche sind, worauf es ankommt. Dass sie viel wirklicher sind als die fassbaren Gegenstände. Diese Bekehrung bedeutet eine kopernikanische Wende. Was bisher unwirklich und unwesentlich erschien, erweist sich als das eigentlich Entscheidende. Wo eine solche Bekehrung geschieht, ändert sich nicht eine Theorie, sondern die Grundgestalt des Lebens wird anders. Dieser Bekehrung bedürfen wir alle immer wieder: Dann sind wir auf dem richtigen Weg.“[7] Es gilt, den Glauben an Gott in die Mitte zu stellen und im Alltag zu „realisieren“, also das Leben davon formen und umformen zu lassen. An diesen Primat Gottes zu erinnern, war auch ein Grundanliegen von Benedikt XVI. „Ich hatte das Bewusstsein“, so sagte er im Rückblick, „dass ich vor allen Dingen versuchen musste, zu zeigen, was Glaube in der heutigen Welt bedeutet, wieder die Zentralität des Glaubens an Gott herauszustellen und den Menschen Mut zum Glauben zu geben.“[8]
Damit verbunden ist ein zweiter Aspekt, nämlich das rechte Verständnis des Gewissens, in dem Benedikt XVI. die treibende Kraft hinter der Bekehrung Newmans sah. Was aber ist das Gewissen? „Im modernen Denken bedeutet das Wort Gewissen, dass in Sachen Moral und Religion das Subjektive, das Individuum die letzte Entscheidungsinstanz darstellt. Die Welt wird in die Bereiche des Objektiven und des Subjektiven geschieden. Das Objektive sind die Dinge, die man berechnen und im Experiment überprüfen kann. Religion und Moral entziehen sich diesen Methoden und gelten daher als der Bereich des Subjektiven. Da gebe es letztlich keine objektiven Maßstäbe. Die letzte Instanz, die hier entscheiden kann, sei daher nur das Subjekt, und mit dem Wort ‚Gewissen‘ wird dann eben dies ausgesagt: In diesem Bereich kann nur der einzelne, das Individuum mit seinen Einsichten und Erfahrungen entscheiden. Newmans Auffassung von Gewissen ist dem diametral entgegengesetzt. ‚Gewissen‘ bedeutet für ihn die Wahrheitsfähigkeit des Menschen: die Fähigkeit, gerade in den entscheidenden Bereichen seiner Existenz – Religion und Moral – Wahrheit, die Wahrheit zu erkennen. Das Gewissen, die Fähigkeit des Menschen zum Erkennen der Wahrheit legt ihm damit zugleich die Verpflichtung auf, sich auf den Weg zur Wahrheit zu begeben, nach ihr zu suchen und sich ihr zu unterwerfen, wo er ihr begegnet. Gewissen ist Fähigkeit zur Wahrheit und Gehorsam gegenüber der Wahrheit, die sich dem offenen Herzens suchenden Menschen zeigt. Der Weg der Bekehrungen Newmans ist ein Weg des Gewissens – nicht der sich behauptenden Subjektivität, sondern gerade umgekehrt des Gehorsams gegenüber der Wahrheit, die sich ihm Schritt um Schritt öffnete.“[9] Newman zeigt, dass das Gewissen in seinem eigentlichen Kern nicht die Stimme des eigenen Ich ist, sondern das Echo der Stimme Gottes, „der ursprüngliche Statthalter Christi“[10]. Diese Stimme zu erkennen und ihr zu gehorchen, darauf kommt es an.
Ein dritter Aspekt betrifft die Frage nach der Wahrheit. Jeder Mensch ist berufen, die Wahrheit zu suchen, ihr zu folgen und sie weiterzugeben. Newman ist darin ein faszinierendes Vorbild. „Am Ende seines Lebens beschreibt Newman sein Lebenswerk als einen Kampf gegen die wachsende Tendenz, die Religion als bloß private und subjektive Angelegenheit, als Frage von persönlicher Meinung zu betrachten […]. Wenn heutzutage ein intellektueller und moralischer Relativismus die wahren Fundamente unserer Gesellschaft zu untergraben droht, erinnert uns Newman daran, dass wir Menschen, die wir Abbild Gottes und ihm ähnlich sind, erschaffen wurden, um die Wahrheit zu erkennen und in dieser Wahrheit unsere höchste Freiheit und die Erfüllung unserer tiefsten menschlichen Sehnsucht zu finden.“[11] Benedikt XVI. hatte für seinen Hirtendienst das Motto gewählt: Cooperatores veritatis. Er verzehrte sich im Dienst an der Wahrheit. In Newman fand er einen geistlichen Bruder, der uns meisterhaft lehrt, „dass der Primat Gottes der Primat der Wahrheit und der Liebe ist“[12].
Schließlich darf nicht vergessen werden, dass Newman seine vielen Gaben als geistlicher Vater für andere fruchtbar machte. Der Wahlspruch Cor ad cor loquitur, den er sich als Kardinal zulegte, bringt diese Seite seiner Persönlichkeit treffend zum Ausdruck. Benedikt XVI. schloss die Homilie während der Seligsprechungsmesse mit einem Hinweis auf die priesterliche Hingabe Newmans, auf seine Sorge „für die Menschen von Birmingham während der Jahre, die er in dem von ihm gegründeten Oratorium verbrachte, indem er die Kranken und die Armen besuchte, die Hinterbliebenen tröstete und sich um die Gefangenen kümmerte. Kein Wunder, dass nach seinem Tode so viele Tausend Menschen die örtlichen Straßen säumten.“[13] Solche geistliche Väter braucht die Kirche zu allen Zeiten, auch in unseren Tagen.
[1] Joseph Kardinal Ratzinger, Newman gehört zu den großen Lehrern der Kirche, Vortrag vom 28. April 1990, in: Maria Katharina Strolz/Margarete Binder, John Henry Newman. Lover of Truth, Rom 1991, 142.
[2] Ebd.
[3] Ebd.
[4] Joseph Kardinal Ratzinger, Wenn du den Frieden willst, achte das Gewissen jedes Menschen. Gewissen und Wahrheit, in: Ders., Wahrheit, Werte, Macht. Prüfsteine der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg 1993, 43.
[5] Joseph Kardinal Ratzinger, Salz der Erde. Christentum und katholische Kirche an der Jahrtausendwende. Ein Gespräch mit Peter Seewald, Stuttgart 1996, 71f.
[6] Benedikt XVI., Ansprache bei der Gebetsvigil am Vorabend der Seligsprechung von Kardinal John Henry Newman, 18. September 2010.
[7] Ders., Ansprache beim Weihnachtsempfang für das Kardinalskollegium und die Mitglieder der Römischen Kurie sowie des Governatorats, 20. Dezember 2010.
[8] Ders., Letzte Gespräche: Mit Peter Seewald, München 2016, 28.
[9] Ders., Ansprache beim Weihnachtsempfang für das Kardinalskollegium und die Mitglieder der Römischen Kurie sowie des Governatorats, 20. Dezember 2010.
[10] John Henry Newman, Polemische Schriften. Abhandlungen zu Fragen der Zeit und der Glaubenslehre, Mainz 1959, 162.
[11] Benedikt XVI., Ansprache bei der Gebetsvigil am Vorabend der Seligsprechung von Kardinal John Henry Newman, 18. September 2010.
[12] Ders., Botschaft zum Symposium des Internationale Zentrums des Newman-Freunde, 18. November 2010.
[13] Ders., Homilie bei der heiligen Messe mit Seligsprechung von Kardinal John Henry Newman, 19. September 2010.
