Der Begriff Gemeinwohl

Prof. Dr. mult. Thomas Benesch

Gemeinwohl hat als Begriff eine lange Geschichte und nimmt nach Messner[1] einen hohen Stellenwert ein in der Sozialethik des Christentums. Anzenbacher[2] zufolge entstammt das Gemeinwohl nach Platon der griech. Polis bzw. kommt aus der aristotelischen Tradition. Nach Platon bezieht sich seine Idee des Gemeinwohls in der Politeia auf Gerechtigkeit, indem Staaten für den Zweck gegründet werden, um nach Möglichkeit alle, und nicht nur einen bestimmten Stand Glück zu bringen. Die Hoffnung liegt darin, dass in einem derart gegründeten Staat eher Gerechtigkeit vorzufinden ist und umgekehrt Ungerechtigkeit in einem schlecht gegründeten Staat zu finden ist. Wenn nun ein glücklicher Staat geformt wird, betrifft dies daher ebenso das Glück aller in diesem Staat lebenden, ohne Ausnahme[3].

Eine Weiterentwicklung des Konzepts Gemeinwohl erfolgt im Mittelalter durch Thomas von Aquin (1224/25-1274). Auch in seinem Verständnis soll Gemeinwohl für jede einzelne Person einer Gemeinschaft bestehen. Die Aufgaben von Gesetzen und deren Gerechtigkeit betrifft den Aufbau und die Gewährleistung eines geordneten Staates für die Gemeinschaft[4].

Das Gut ‚Gemeinwohl‘ kann in dessen Gesamtheit von vielfachen Gütern nur in der Gemeinschaft mit anderen das Wohlergehen aller realisieren und funktioniert somit ausschließlich in einer Kooperation von Beziehungen in einer Gesellschaft[5].

Für ein besseres Verständnis des Konzepts Gemeinwohl führt Sutor[6] folgendes Beispiel aus: Im Mittelalter trug es sich zu, dass eine Gemeinschaft von Bauern gemeinsam eine Viehweide (Allmende) bewirtschaftete. Wenn ein einzelner Bauer auch nur für eine kurze Zeit das eigene Interesse in den Vordergrund rückte, ließ dieser so viele seiner Tiere so oft wie möglich auf dieser Weide grasen. Würden alle, oder auch nur die meisten der Bauern so handeln, wäre die Weide rasch abgegrast und würde für alle einen großen Schaden bringen. Aus diesem Grund musste die Gemeinschaft von Bauern eine Übereinkunft treffen, wie lange jeder sein Vieh weiden lassen durfte. Diese Vereinbarung schränkte zwar das persönliche Eigeninteresse des einzelnen Bauern ein, schützte diesen (und damit auch alle) auch zugleich vor der Überweidung der Allmende. So entstand die Allmendenordnung in Form einer demokratischen Lösung für Gemeinwohl, das von einer Gemeinschaft an Beteiligten gemeinsam vereinbart wurde.

Die Bedeutung des Gemeinwohls ist insbesondere auch für die Soziallehre des Christentums sehr hoch. Spezifische Relevanz nimmt es für die Auffassung eines Staates ein, denn wenn die Vielzahl an Staaten und deren Völker langfristig nur im Eigeninteresse und ohne eine entsprechende Vereinbarung handeln, würden die limitierten Ressourcen unserer Erde zunehmend ver- und aufgebraucht werden, wodurch die eigene Lebensgrundlage zerstört wäre[7].

Im Zeitverlauf verbüßte der Begriff Gemeinwohl zunehmend dessen Position ein, insbesondere, weil Individualismus immer mehr in den Vordergrund gerückt wurde.

Immanuel Kant gilt aus der politischen Sicht als der zentrale Kritiker. Angelehnt an Kant meint Geismann[8] dass der Bestand von Gemeinwohl lediglich im Erhalten von gesetzlichen Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft bestünde. Hier strebt jede Person nach dem eigenen Wohl, unabhängig davon, ob andere dadurch einen Schaden erleiden, solange sich dieses Verhalten im allgemein anerkannten und gesetzlich erlaubten Rahmen befindet.

In der Interpretation von Johannes Messner[9] wird Gemeinwohl als ein dynamisches und nicht als ein statisches Prinzip verstanden, das im jeweiligen kulturellen und zeitlichen Kontext eingebettet ist. Gemeinwohl versteht sich demzufolge als eine umfassende Ordnung, die permanent neu verwirklicht wird und neuen Leistungswillen Platz bietet sowie neuen Anteilsansprüchen Folge leistet, die sich auf Gerechtigkeit begründet, die in einer komplexen und wachsenden Kooperation einer Gesellschaft vorliegt. Als dynamisches Prinzip erlaubt Gemeinwohl das Verstehen einer Forderung nach kulturellem sowie sozialem Fortschritt sowie den kontinuierlich neuen sozialreformerischen Aufgaben, die damit in Verbindung stehen.

Die Auffassung von Messner[10] umfasst zudem auch die Dimension Zukunft im Hinblick auf das Gemeinwohl. Diese Zukunft bezieht die nachfolgenden Generationen und deren Forderungen auf innergesellschaftlicher, globaler und internationaler Ebene mit ein. Demzufolge hat eine pluralistische Gesellschaft eine ebenso pluralistische Verantwortung zu tragen. Diese Verantwortungspflicht tragen neben Politikerinnen und Politikern auch die Mitglieder von Verbänden und ebenso die Bürgerinnen und Bürger selbst[11]. Messner[12] bezeichnet schließlich das Gemeinwohl als Gerechtigkeit, die verwirklicht wurde, bei der das Konzept von sozialer Gerechtigkeit im Mittelpunkt steht.

Dieses Verständnis von Gemeinwohl von Messner trifft auch heute noch zu. Es ist zentral im Bereich der Ethik verankert, doch findet sich zugleich überraschenderweise kaum etwas in diesem Bezug in der wissenschaftlichen bzw. katholischen Lehre zur Gesellschaft[13].


[1] Vgl. J. Messner, Das Gemeinwohl: Idee, Wirklichkeit, Aufgaben, Fromms Taschenbücher Zeitnahes Christentum 21, A. Fromm, Osnabrück 1962, S. 12.

[2] Vgl. A. Anzenbacher, Christliche Sozialethik: Einführung und Prinzipien, Schöningh Verlag, Zürich 1998, S. 200.

[3] Vgl. Platon, Politeia, 420 b-c

[4] Vgl. O. H. Pesch, Die deutsche Thomas-Ausgabe. Band 13: Das Gesetz, Summa theologica I–II: 90–105, Verlag De Gruyter, Berlin 1977, Sth I-II q 90 a 3; Sth II-II q 58 a 5,6, DOI: 10.1515/9783112658383.

[5] Vgl. R. Marx & H. Wulsdorf, Christliche Sozialethik: Konturen – Prinzipien – Handlungsfelder, Amateca – Lehrbücher zur katholischen Theologie, Bonifatius Verlag, Paderborn 2002, S. 179.

[6] Vgl. B. Sutor, Kleine politische Ethik, Springer-Verlag, Berlin 2013, S. 34

[7] Vgl. B. Sutor, aaO, S. 35.

[8] Vgl. G. Geismann, Kants Rechtslehre vom Weltfrieden, Zeitschrift für philosophische Forschung (3) 1983, S. 365.

[9] Vgl. J. Messner, aaO, S. 39.

[10] Vgl. J. Messner, aaO, S. 108.

[11] Vgl. J. Messner, aaO, S. 89f.

[12] Vgl. J. Messner, aaO, S. 9.

[13] Vgl. W. Schmitz, Wirtschaftsethik als Ordnungsethik in ihrem Anspruch an Sozial-, Konjunktur- und Währungspolitik, Volkswirtschaftliche Schriften 537, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2004, S. 47.

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