Die Bedeutung des Naturrechts für die ethischen und politischen Herausforderungen unserer Zeit

Aus einer Botschaft von Papst Franziskus an die Teilnehmer eines von der päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften veranstalteten Studientagung aus Anlass des 750. Todestages des heiligen Thomas von Aquin[1]

Die zeitgenössischen Sozialwissenschaften behandeln die Themen der menschlichen Angelegenheiten und das Streben nach menschlicher Entfaltung mit einer Reihe von unterschiedlichen Ansätzen und Methoden, die auf die irreduzible Realität und Würde der menschlichen Person gegründet sein sollten. Der Aquinate konnte sich auf eine reiches philosophisches Erbe stützen, das er aus dem Blickwinkel des Evangeliums sah, um zu unterstreichen, dass die „Person“ als das, „was im Bereich aller Natur am vollkommensten ist“ (ST I, q.29, a.3), die Säule der sozialen Ordnung ist. Geschaffen nach dem Bild des Dreifaltigkeit Gottes und ihm ähnlich, sind die Individuen dazu bestimmt, in persönlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen zu leben, zu wachsen und sich innerhalb von Gemeinschaften zu entwickeln.

[…] Der „Doktor Angelicus“ War der festen Überzeugung, dass es keinen ultimativen Widerspruch zwischen der offenbarten Wahrheit und den von der Vernunft erkannten Wahrheiten geben kann, da Gott die Wahrheit und das Licht ist, dass alles verstehen erleuchtet.

[…] Während sein Einfluss auf die Entwicklung des modernen moralischen und juristischen Denkens nicht zu bezweifeln ist, könnte es sich für unser systematisches Nachdenken über die dringenden sozialen Fragen unserer Zeit als vielversprechend erweisen, die philosophische und theologische Perspektive, die sein werden geprägt haben, aufzugreifen.

Thomas von Aquin verteidigt die Würde und Einheit, die den Menschen innewohnt, der durch seinen Leib sowohl zur physischen Welt als auch  durch seine vernunftbegabte Seele zur geistigen Welt gehört: er ist ein Geschöpf, das in der Lage ist, auf der Grundlage des Nicht-Widerspruch-Prinzips zwischen dem Wahren und dem Falschen, aber auch das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Diese angeborene Gabe der Unterscheidung und der Ordnung oder Hinordnung der Handlungen auf ihr letztes Ziel durch die Liebe, die traditionell als „Naturgesetz“ bezeichnet werden, ist, wie der Katechismus der Katholischen Kirche mit einem Zitat von Thomas sagt, „nichts anderes als das von Gott in uns hineingelegte Licht der Vernunft. Durch es erkennen wir, was zu tun und was zu meiden ist. Dieses Licht und dieses Gesetz hat Gott dem Menschen in der Schöpfung gegeben“ (Nr. 1955).

Eine neue Wertschätzung dieses „naturhaften Strebens, Wahrheitserkenntnis über Gott zu gewinnen, sowie in die Gesellschaft integriert zu sein“ (ST I-II,  q.94, a.2), ist unbedingt notwendig, um das soziale Denken und die Politik so zu gestalten, dass sie das wahre menschliche Gedeihen des Einzelnen und der Völker fördern und nicht behindern. Aus diesem Grund haben meine Vorgänger und ich die Bedeutung des Naturrechts in den Diskussionen über die ethischen und politischen Herausforderungen unserer Zeit immer wieder bekräftigt. So sagt Benedikt XVI.: „Ein solches universale Sittengesetz ist die feste Grundlage eines jeden kulturellen, religiösen und politischen Dialogs und erlaubt dem vielfältigen Pluralismus der verschiedenen Kulturen, sich nicht von der gemeinsamen Suche nach dem Wahren und Guten und nach Gott zu lösen“ (Caritas in veritate, 59).

Das Vertrauen des heiligen Thomas in ein Naturgesetz, das dem Herzen des Menschen eingeschrieben ist, kann somit unserer globalisierten Welt, in der Rechtspositivismus und Kasuistik vorherrschen, neue und gültige Einsichten bieten, gerade im Hinblick auf die Suche nach soliden Grundlagen für eine gerechte und humane soziale Ordnung.


[1] In: L` Osservatore Romano v. 15. März 2024, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 11, 8-9

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