Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
„Wie doch nichts abenteuerlich ist als das natürliche
und nichts groß als das natürliche
und nichts (…) als das natürliche!!!!“
Goethe an Charlotte von Stein
am 2. Dezember 1777 auf der Harzreise
Entwürfe einer neuen Sexualmoral werden gefeiert: Endlich sei der Durchbruch zur Trennung von Natur und Person gelungen. Liebe, ob auto-, bi-, homo-, hetero-, poly-erotisch, sei als Selbstausdruck der mündigen Person nicht an natürliche Vorgaben gebunden. Personsein heißt damit: Überwindung der Natur. In derselben Zeit also, in der „Bio“ überall zum Werbeträger wird, ist die Biologie des Menschen unwichtig geworden.
Das lässt in mehrere Abgründe blicken – zuerst in theoretische Irrwege. Sie sind seit langem angelegt.
Schöpfung: ohne den Charakter von Offenbarung?
Im Spätmittelalter wurde bereits das bisherige Vertrauen in die Verbindlichkeit der Schöpfung philosophisch entwurzelt. Ein Radikal-Nominalismus sah Sprache nur als Ausdruck von Konvention, sogar Konstruktion: Der Mensch habe letztlich keinen Erkenntnis-Zugang zur Welt, er belege sie mit Wörtern (nomina), aber nur im vordergründigen „Stimmhauch“ (flatus vocis). Damit reißt theologisch die Skepsis ein: Die Schöpfung offenbare von sich aus den Schöpfer nicht, schon deswegen, weil sie nicht notwendig, sondern kontingent und jederzeit von Gott wieder veränderbar sei. Das Auge des Menschen reicht nicht mehr in die Wesenstiefe des Geschaffenen. Vielmehr muss die Sprache die Stummheit der Dinge deuten. Schöpfungstheologie wird zum Stiefkind; sola scriptura entmächtigt bei Luther alle anderen Mitteilungen Gottes. Die zeitgleiche Renaissance arbeitet dem Gedanken zusätzlich in anthropologischer Selbstermächtigung zu.
Der Mensch: ohne Natur aus lauter Freiheit?
„Es ist die Natur des Menschen, keine Natur zu haben.“ Pico della Mirandola lässt die berühmte Rede über die Würde des Menschen 1486 darin gipfeln: Gott selbst gibt Adam die Freiheit gänzlicher Selbstbestimmung. Während alle Geschöpfe ein göttliches Gesetz in sich tragen, ist der Mensch als einziger ohne Gesetz geschaffen. Als Mitte der Welt hat er zugleich die unbedingte Macht über sich selbst wie über alles andere. Als „Gott, mit menschlichem Fleische umkleidet“, schafft er die Welt auftragsgemäß neu und sieht dabei die Mitgeschöpfe als anonymes Gegenüber, als Hohlraum seiner Gewalt, als „Vorwurf“ (so wörtlich das Objekt), den es in Dienst zu nehmen gilt.
Ethik: ohne Verankerung im Sein?
Damit wird die Offenbarung, sei es durch die Schrift, sei es durch die Schöpfung, unsicher. Die Schrift unterliegt der Auslegung durch den Menschen, die Schöpfung unterliegt den Zwecken des Deus secundus. In einer weit verstandenen Autonomie der Person ist er nur sich selbst verantwortlich; so letztlich in der Aufklärung, welche gleichzeitig Gott als eine heteronome = fremdgesetzliche Moralinstanz missversteht. Das Sittlich-Gute wird vom Heilig-Guten getrennt und dem eigenen Einsehen unterstellt. Ethik wird zur Ethik der Selbstbestimmung.
Die Spätmoderne formuliert nunmehr auch eine leiblose Freiheit. Selbst der eigene Leib, mit seinem Geschlecht beschriftet, scheint kein ethisches Verhalten mehr mitzuteilen. Neuerdings wird die biblische Genesis von Mann und Frau gelesen als kulturspezifischer Ausdruck einer überholten Epoche. Stattdessen wird die eigene Subjektivität zum Leitfaden einer willensabhängigen Ethik. Ihr letztes Kriterium gilt als Wille zur Beziehung, die das Gegenüber in seiner Personalität, unabhängig von seiner Natur, liebe und gelten lasse. Es bedürfe nur des willentlichen Einvernehmens zwischen Personen, nicht mehr aber der leiblichen Polarität, um zu lieben. Der Leib verstummt in seiner eigenen Sprache.
Was ist falsch daran? Person wurzelt in der Natur; theologisch: in der Fleischhaftigkeit der Schöpfung.
Statt Decarnation: Inkarnation
Personsein meint ein Doppeltes: In-sich-Stehen (sich gehören, Selbstzweck sein) und Über-sich-Verfügen (über sich hinausgehen, sich einfügen). Personsein ist Selbstgehörigkeit, aber nicht im stummen Selbstbesitz: Ich erwache in Begegnung mit anderem Ich. Erst dann kommt es zur Verwirklichung des Ich, zu seiner entscheidenden, ja schicksalhaften Dynamik. Dann geht es über die Selbstbewahrung hinaus, die das neutrale Subjekt-Objekt-Verhältnis schirmt: Person wird auf Person resonant und von ihr her ins Antwortlose preisgegeben oder auch ins Unerschöpfliche geöffnet. Dies aber geschieht über den Leib: Nur in den fünf leiblichen Sinnen teilen wir uns einander mit, sind wir überhaupt füreinander da oder zerstören einander. Die Phänomenologie nennt es das Leib-Apriori, vor allem Bewusstsein, vor allem Willen, vor aller Zustimmung oder Ablehnung. Leib ist die Bedingung meines Daseins. Leibhafte Natur bedeutet Verankerung in der Materie mit ihren Gesetzen, Bedürfnissen, Antrieben, Kräften.
Die Konstruktionsthese entwertet den Naturbegriff deswegen, weil sie darin ein gusseisernes Festschrauben auf ein vorwillentliches Dasein sieht. Das ist jedoch keineswegs der Fall: Vielmehr bedeutet Natur die leib-seelisch-geistige Einheit des Menschen im ursprünglichen Sinn von nascitura. Natur schließt ein Werden, eine Entfaltung ein. Aber nicht gegen die eigene Mitgift, sondern alles ethische Tun ruht auf der leiblichen Vorgabe. Schon die griechische Ethik verband Wollen mit Wirklichkeit Thomas von Aquin (Sth, II, II, 108, 2) formuliert als Grundsatz alles ethischen Gelingens: „Die Tugend vervollkommnet uns dahin, unserer natürlichen Neigung zu folgen, auf die rechte Weise (debito modo).“ Nur vom Sein aus gelangt man sinnvoll zum Sollen. Das Gute ist das Wirklichkeitsgemäße.
Guardini sah in den 1930er Jahren in der Moderne „bei aller Größe etwas Dämonisch-Zerrissenes, worin der Sinn immer mit dem Unsinn gepaart ist; das Schaffen mit der Zerstörung; die Fruchtbarkeit mit dem Sterben; das Edle mit dem Gemeinen. Und eine ganze Technik des Vorbeisehens, des Verschleierns und Abblendens hat entwickelt werden müssen, damit der Mensch die Lüge und die Furchtbarkeit dieses Zustandes ertrage.“
In der Liebe entfaltet die Person ihre ganze lebendige Wirklichkeit, bis ins Leibliche hinein. Zur Liebe sind zwei Geschlechter geschaffen – in gegenseitiger unergründlicher Fremdheit und Anziehung. Sich öffnen für die Andersheit des anderen Geschlechtes meint: Frau ist bleibendes Geheimnis für den Mann, der Mann für die Frau. Es ist unabänderlich: Der Mann wird nur an der Frau zum Vater, die Frau nur am Mann zur Mutter. Sexualmoral hat dieses zutiefst Andere zu schützen, nicht zu neutralisieren.
Personsein gelingt menschlich nur in der Annahme des eigenen Fleisches. Die äußerste Provokation des biblischen Denkens geht sogar durch den Tod hindurch – in eine neue Leiblichkeit: Wir werden als Mann und Frau auferstehen, im eigenen Leib, „verklärt“ = pneumatisch. Die jetzige Natur wird unvorstellbar verwandelt, aber sie bleibt Träger der Person.