„Wer bist Du?“

von Prof. DDr. Elmar Nass

„Wer bist Du?“ Die Antwort auf diese Frage ist ein Spiegel unserer Identität. Der ist in unserer Gesellschaft immer brüchiger geworden. Verpönt sind etwa Äußerungen zur eigenen Nationalität. Das gilt als rechts. Auch nicht zum Geschlecht, zumindest, wenn man sich als Mann oder Frau erklären wollte. Solches gilt womöglich als Kritik an der Genderperspektive. Deshalb sagt man besser auch nichts zu seiner Familie. Denn das vereint beide Kritikstränge. Das klassische Familienbild gilt als ebenso vormodern, wie rechts und genderkritisch. Schließlich wurde es von den „alten weißen Männern“ bestimmt, die man heute nicht mehr hören will. Und dieses Hörverbot gilt erst recht für ein Bekenntnis zur Kirche. Denn die schafft sich gerade selbst ab. Welcher moderne Mensch will sich damit noch gemein machen? Wenn also solche Antworten heute unerwünscht sind, was antworten wir dann eigentlich? Hierbei geht es nicht um ein Ratespiel, sondern um einen Kompass für das in unserer Gesellschaft vorherrschende Menschenbild.

Erstmals wurde ich im Jahr 1999 mit dieser Frage konfrontiert im Rahmen einer Pilgerreise mit Jugendlichen nach Israel. Bei einem Treffen mit palästinensischen und jüdischen Jugendlichen warf ein Teilnehmer die Frage in den Raum: „Wer seid Ihr eigentlich? Was macht Euch aus?“ Es entbrannte eine lebendige Diskussion. Unsere Gesprächspartner aus Israel fingen an mit ihrer Religion, dann mit ihrer ethnischen Herkunft. Und die Jugendlichen aus Deutschland waren eher sprachlos und berichteten von ihren Hobbies und persönlichen Interessen. Damals habe ich das so gedeutet: Jugendliche aus Deutschland und Österreich haben durch das Trauma der NS-Diktatur ein patriotisches Bewusstsein abgelegt. Und von der eigenen Religion weiß man zu wenig. Sie spielt keine wichtige Rolle im Leben. Darüber habe ich anschließend mit unserer Gruppe diskutiert. Die Gesprächssituation 1999 ließ sich soziologisch gut nachvollziehen. Inzwischen ist diese Sprachlosigkeit auf die Frage nach dem eigenen „Ich-Sein“ um die oben genannten Aspekte angewachsen. Und das mit gefährlichen Folgen für unser Zusammenlebens. Dafür sehe ich verschiedene Gründe.

  1. Es hat sich eine kleine, medienmächtige Avantgarde als mächtige Lobby organisiert, die unerwünschte Menschen- und Gesellschaftsbilder zunehmend verdrängt, sei es durch Sprachvorschriften (Gender*), die Zensur von Literatur (Karl May), aktivistischen Boykott und Skandalisierung unliebsamer Wissenschaftler (Cancel-Kultur), durch entsprechende Bildungsvorgaben (Geschichtsunterricht und Familienbilder in der Schule), teuer finanzierte Forschungsstellen (öffentliche Vergabe-Richtlinien und Genderprofessuren etc.), die Reduzierung medialer Kirchenberichte auf Skandale oder im Rahmen von CSR ausdrückliche Spendenverbote von Großkonzernen für kirchliche Projekte u.v.a.m.
  2. Wissenschaftlich wird sozialethisch fundiert. In einer 2015 veröffentlichten Dissertation wurde dazu programmatisch gefordert, es dürften im gesellschaftlichen Diskurs nur noch solche Argumente artikuliert werden, die von vornherein als konsensfähig gelten. Andere Positionen fielen unter eine Zensur im Kopf. Solche Harmonisierung ist eine gefährliche Abkehr von demokratischer Pluralität und Streitkultur.[1]
  3. Es fehlt unserer Gesellschaft zunehmend eine überzeugende sozialethische Orientierung, die in einem transparenten Menschenbild Moral begründet. Ohne eine solche Wertefundierung schwanken Menschen schnell hin- und hergetrieben in den Wogen der tagespolitischen Debatten und der schön klingenden, aber inhaltsarmen Wortblasen von Würde, Gerechtigkeit, Frieden, Zusammenhalt, Solidarität oder Nachhaltigkeit.

Fehlt den Menschen bei uns ein Bewusstsein von ethnischer Herkunft, Geschlecht, Familie und Religion, steht ein Bewusstsein von Identität auf tönernen Füßen. Das macht uns anfällig für Menschenbilder, die uns von außen verbiegen könnten. Chinas Parteichef Xi etwa fordert schon lange die Erziehung zu einem neuen, sozialistischen Menschen im Dienst von Harmonie, Frieden und Wohlstand. Gemeint sind dabei aber: Uniformität, Überwachung und Hegemonie unter strenger Aufsicht der Partei. Und das ausdrücklich mit einem globalen Anspruch.[2] Auch im Angesicht einer solchen Bedrohung sollten wir uns möglichst bald vor dem Spiegel die Frage stellen, wer wir wirklich sind. Und zwar ohne Druck der Avantgarde, ohne Schere im Kopf und damit offen für das, was Johannes Messner als den Anfangspunkt verantwortlicher Sozialethik verstand.


[1] Vgl. hierzu die Innsbrucker Sozialphilosophin Marie-Luisa Frick (2017: Zivilisiert streiten, Frankfurt a.M.

[2] Vgl. Xi Jinping (2014): Junge Menschen sollen die sozialistischen Grundwerte bewusst praktizieren. Rede vom 4. Mai 2014, in: ders. (2014): China regieren, Verlag für fremdsprachige Literatur: Peking: 204-219.

2 Gedanken zu „„Wer bist Du?“

  1. Ich teile Ihre Analyse. Mein Eindruck von der aktuellen Gesellschaft und Politik ist, dass die jetzige Generation, die also der NS-Zeit zeitlich/biologisch nachfolgt, mit ungebrochener Radikalität wieder einer totalen Ideologie frönt, welche aber an der Oberfläche ganz der Nazi-Zeit entgegengesetzt ist und dabei alle ideologischen Positionen umgedreht hat, aber mit dem gleichen Stumpfsinn und derselben Unchristlichkeit operiert. Es handelt sich sicherlich um eine „Diktatur des Relativismus“, in der wir heute leben und an der wir die „Zeichen der Zeit“ suchen sollten. Schließlich war Europa noch nie christlich im strengen Sinn des Wortes…..

    Mit freundlichem Gruß Mag. phil. Stefan Fruth

    Pechestraße 5, Tür 12, 6020 Innsbruck

    Telefon: 0681 815 805 85 Email-Adresse: stefan.fruth1@gmail.com

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  2. Mit sich selbst im Reinen zu sein ist Voraussetzung dafür, mit anderen angemessen umgehen zu können. Eingrenzung des Dialogs und Denkverbote mindern die Qualität der Erkenntnisse. Aus meiner Sicht ist von der Gleichwertigkeit der Menschen in ihrer Vielfalt auszugehen, ungeachtet ihres Potentials, Beitrages und ihrer Eigenart. Davon unabhängig ist deren Ausmaß an Erkenntnis und Durchdringung von Gegebenheiten. Zeitgeist ist nicht das Maß aller Dinge.

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