Zu Maria Raphaela Hölschers Buch «Das Naturrecht
bei Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. – Die Bedeutung des Naturrechts in Geschichte und Gegenwart»
von Urs Knoblauch, Kulturpublizist, Fruthwilen /CH
Das Naturrecht bildet eine ethische Grundlage, die für alle Menschen und Kulturen, unabhängig von Weltanschauung, Religion und Kultur gültig ist. Maria Raphaela Hölscher zeigt in ihrem Buch, wie im Verständnis des Naturrechts von Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. wissenschaftliche, «philosophische und theologische Hintergründe engstens miteinander verknüpft sind». (S. 15) Dabei wird auch das Werk von Johannes Messner (1891–1984) und Rudolf Weiler (*1928) gewürdigt; ebenso werden zahlreiche Quellen und wissenschaftlichen Arbeiten zum Naturrecht beigezogen. Aktuelle Bezüge zum gegenwärtigen Zustand der politischen Kultur werden hergestellt.
Die naturrechtliche Tradition geht auf Aristoteles und besonders auf die Stoa zurück, «die von der Stimme der Vernunft und dem Gesetz der Natur des Menschen gesprochen hat». (S. 9) Die Autorin betont, dass es in einer «zweieinhalbtausendjährigen Debatte» immer wieder «um einen Maßstab für Moral- und Rechtsgesetze» ging. (S. 14) «Das Naturrecht sei», so Ratzinger, «besonders in der Katholischen Kirche die Argumentationsfigur geblieben, mit der sie in den Gesprächen mit der säkularen Gesellschaft und mit anderen Glaubensgemeinschaften an die gemeinsame Vernunft appelliere. Mit ihm würde die Grundlage für eine Verständigung über ethische Prinzipien des Rechts in einer säkularen pluralistischen Gesellschaft gesucht.» (S. 35) In Bezug auf die Soziallehre der katholischen Kirche zeigt Hölscher, indem sie auf Benedict XVI. bezieht, dass sie «von der Vernunft und vom Naturrecht her argumentiert, das heißt von dem aus, was allen Menschen wesensgemäß ist». (S. 38) Der Mensch als leib – seelische, emotionale Sozialnatur ist mit Vernunft begabt und mit der Fähigkeit zur Transzendenz ausgezeichnet.
Schon als Kardinalpräfekt hat Joseph Ratzinger 2005, kurz vor seiner Wahl zum Papst, die gegenwärtige «Diktatur des Relativismus» beklagt, die nichts als gültige Wahrheit anerkennen wolle. Gerade in Grundwerten wie Ehrlichkeit, Recht, Treue, Friedfertigkeit oder Fürsorglichkeit gibt jedoch es keinen Subjektivismus, keinen Relativismus und keine Beliebigkeit und Anpassung an irgendeinen Zeitgeist. Es dürfe, so Horst Seidl, keine «Verdunkelung und Verunsicherung der Evidenz von Werten wie Gleichheit der Menschen, gleiche Würde der Geschlechter und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens» zugelassen werden. (S. 190) Damit sind auch die zentralen Aufgaben für die Erziehung, Bildung und die politische Kultur angesprochen.
Das Naturrecht wird von Zeitgeistströmungen wie der Postmoderne, dem Antihumanismus, dem Dekonstruktivismus, dem Nihilismus sowie von einem radikalen Profit- und Machtstreben zurückgedrängt und kaum mehr gelehrt. Es ist darum dringend notwendig, dass das Naturrecht als Basis einer Kultur- und Friedensethik wieder mehr Bedeutung gewinnt. Spätestens seit der Rede von Papst Benedikt XVI. vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011 ist das Naturrecht, welches der Wesensnatur des Menschen entspricht und Grundlage einer universalen Rechtskultur und Ethik ist, wieder mehr in politische Debatte eingegangen (www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/benedikt/rede/ 250244).
Das Recht, wie es vom Naturrecht her verstanden wird, ist nicht vom Menschen geschaffen, sondern ist «den Menschen ins Herz geschrieben», wie dies Wolfgang Waldstein in seinem Buch darlegt, auf das sich der Papst in seiner Rede vor dem Bundestag beruft (W. Waldstein, Ins Herz geschrieben, Augsburg 2010). Mit Blick auf die Gefahr, dass in der Politik Macht von Recht getrennt werde, bezieht sich der Papst auf Augustinus, der einmal sagte: «Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande.» Benedikt XVI. verweist auf «die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln». (S. 10) Diese Erkenntnis der Vernunft «bilden unser kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren oder als bloße Vergangenheit zu betrachten, wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und würde sie ihrer Ganzheit berauben». (S. 10) Benedikt XVI. weist im Zusammenhang mit dem in der Menschennatur gründenden Naturrecht auf das «natürliche Sittengesetz» und «die Grundlagen der universalen Ethik» für alle Menschen, Kulturen und Weisheitstraditionen hin, die zum «großen Erbe der menschlichen Weisheit“ gehören. (S. 41) Die Gefahr bestehe darin, dass «die positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht, da verkleinert sie den Menschen, ja sie bedroht die Menschlichkeit». (S. 51) Gegenüber dem von Menschen gesetzten Recht und den durch demokratische Mehrheitsabstimmungen bestimmten Gesetzen mit Rechten und Pflichten, die auch Unrecht sein können, «muss es doch ein Recht geben, das aus der Natur, dem Sein des Menschen selbst folgt. Dieses Recht muss gefunden werden und bildet dann das Korrektiv zum positiven Recht». (S. 35)
Dem Papst war es ein zentrales Anliegen, die «Macht unter das Maß des Rechts zu stellen, so dass nicht ein Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts gelten müsse». (S. 34f) Mit einer sogenannten «Neuen Anthropologie», dem «Gender-Mainstreaming» und einer radikaler Digitalisierung, Ökonomisierung und Technologisierung, welche eine „Kulturrevolution“ darstellt, werden die menschliche Würde und die elementaren Grundlagen des Menschseins und des Naturrechts verletzt. (S. 169) Die medialen und manipulativen Beeinflussungstechniken, die sich auch auf parlamentarische Mehrheitsentscheidungen, auf Volksabstimmungen und auf Recht und Gesetz auswirken, dürfen nicht zugelassen werden. Ansonsten wird das Prinzip von Treu und Glauben zersetzt und damit die Grundlage des Rechts. Das Werk von Maria Raphaela Hölscher bietet so auch eine wertvolle Orientierung für die erzieherische Aufgabe und Verantwortung in Bildung, Kultur und Politik.
Die in der sozialen Wesensnatur angelegten menschlichen Fähigkeiten müssen, das zeigen uns die personale Psychologie und Humanwissenschaften, von früher Kindheit an durch Vorbild und sorgfältige Anleitung auch im Gefühlsleben und Gewissen des Menschen verankert werden. In diesem Sinn sei das universale Sittengesetz und das Naturrecht «die feste Grundlage eines jeden kulturellen, religiösen und politischen Dialogs. «Um echt zu sein», sagt Benedikt XVI., muss der «Dialog klar sein, indem er Relativismus und Synkretismus vermeidet, aber von einem ehrlichen Respekt für die anderen und von einem Geist der Versöhnung und Brüderlichkeit beseelt ist.» (S. 220) Auch den Errungenschaften der Vereinten Nationen sei wieder viel mehr Sorge zu tragen und ihre Durchsetzung international zu stärken, wie der Papst 2008 in seiner Rede vor der UNO betonte. (Benedikt XVI., Eine menschlichere Welt für alle, 2008) Dabei sei das Naturrecht nicht an ein religiöses Bekenntnis gebunden, sondern vom natürlichen Sittengesetz aus jedem Menschen zugänglich; auf diese Weise ermögliche es das dringend nötige friedfertige Zusammenwirken der Weltgemeinschaft.