Der Beginn eines Dammbruchs?

Der Beginn eines Dammbruchs?

Zum Urteil des deutschen Verfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit geschäftsmäßiger Sterbehilfe vom 26.2.2020

von Dr. Maria Raphaela Hölscher

Am 26.2.2020 erklärte das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Paragraphen 217 StGB des Verbots der geschäftsmäßigen Förderung der Beihilfe zum Suizid für nichtig. Die Beihilfe zum Suizid war verboten, wenn sie „geschäftsmäßig“ erfolgte, also auf Wiederholung angelegt war.

Konkret bedeutet „Beihilfe zum Suizid“, dass der Arzt oder eine andere Person einem Sterbewilligen ein tödliches Medikament überlässt, das dieser nach ärztlicher Beratung und zu einem von ihm bestimmten Zeitpunkt selbst einnimmt.

Die Suizidhilfe rühre „an den Grundfesten unserer ethischen, moralischen und religiösen Überzeugungen“, so der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle. Über diese habe das Gericht aber nicht zu befinden. („So emotional wie selten“, FAZ, 27.2.2020)

Die Reaktionen und Stellungnahmen zu diesem Urteil reichten von Jubel, so im Verein „Sterbehilfe Deutschland“, bis zu tiefer Betroffenheit, dies vonseiten des deutschen Hospiz- und Palliativverbandes (DHPV) und der beiden großen Kirchen, die scharfe Kritik an dem Urteil übten.

Erstere freuten sich über das Recht auf selbstbestimmtes Sterben, welches das BVerfG mit diesem Urteil als legal erklärte. Es beschränkt sich nicht auf schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen. Die Selbstbestimmung über das eigene Lebensende sei ein Recht, das in jeder Phase menschlicher Existenz bestehe.

Besonders schwer wiege beim Urteil aus Karlsruhe diese Ansicht, dass Suizidbeihilfe nicht nur bei schwerer Krankheit das Recht jedes einzelnen sei, sondern in jeder Phase menschlichen Lebens bestehe, so der Vorsitzende des DHPV Prof. Dr. Winfried Hardinghaus. Das Urteil werde auf lange Sicht zu einer Entsolidarisierung mit schwerstkranken und sterbenden Menschen in unserer Gesellschaft führen.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm erklärten, dass dieses Urteil einen Einschnitt in die Bejahung und Förderung einer Kultur des Lebens darstellt. Sie drücken die Befürchtung aus, dass die Zulassung organisierter Angebote der Selbsttötung alte und kranke Menschen auf subtile Weise unter Druck setzen könne, von derartigen Angeboten Gebrauch zu machen.

Die Hoffnung, dass die Entscheidung für einen „besseren Weg“ als jenen, den Deutschland nun eingeschlagen hat, so bleibt, drückte Christoph Kardinal Schönborn aus. Auch in Österreich sei ein entsprechendes Verfahren beim Verfassungsgericht anhängig. Er verwies auf den von Franz Kardinal König geprägten legendären Grundsatz, man solle a n der Hand eines anderen, nicht d u r c h die eines anderen Menschen sterben.

Eine etablierte Sterbehilfe könne zu einem erhöhten Erwartungsdruck und einem stetigen Anstieg von Suiziden führen, warnte die Juristin Stephanie Merckens vom Institut für Ehe und Familie (IEF) der Österreichischen Bischofskonferenz. Eine Illusion sei es, eine einmal zugestandene Beihilfe zur Selbsttötung einzugrenzen. In Belgien und den Niederlanden habe die Entwicklung eben so begonnen. Mittlerweile seien an Demenz Erkrankte, Minderjährige und psychisch Kranke umfasst. In der Schweiz dürfe die Sterbehilfe auch Gefangenen angeboten werden. In Kanada könne man mit seinem selbstbestimmten Tod gleich etwas „Gutes tun“ und den Suizid mit einer Organspende kombinieren. In Ländern mit liberalen Regelungen zur Suizid- und Sterbehilfe sei ein stetiger Anstieg assistierter Selbsttötungen und von Tötung auf Verlangen zu verzeichnen. Suizidentschlüsse könnten gerade dann gefördert werden, wenn Menschen angesichts eines steigenden Kostendrucks in den Pflege- und Gesundheitssystemen aus Angst vor Versorgungslücken befürchten, ihre Selbstbestimmung zu verlieren. Einer der häufigsten Gründe für einen assistierten Suizid sei, wie Untersuchung im In- und Ausland nachweisen, der Wunsch, Angehörigen nicht zur Last zu fallen. („SterbehilfeEntscheid: Österreich tickt menschlicher. Noch“, in: „Die Presse“, 28.2.2020)

Es setzte sich mehr und mehr die Auffassung durch, dass die Würde des Menschen vor allem Selbstbestimmung bedeutete, so Christian Hillgruber, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn.

Eine Kultur des Sterbens, der Leidensbewältigung und des Beistands können nicht darin bestehen, den Tod als professionelle Dienstleistung anzufordern, so die Geschäftsführerin des Instituts für medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE), die Wiener Ethikerin Susanne Kummer. Die Antwort auf existenzielle Leiden, Einsamkeit, Depression oder auch finanzielle Nöte dürfe nicht die Tötung sein, menschliche Begleitung sowie medizinische Hilfe würden gebraucht.

In der Sterbehilfe Kampagne gehe es auch um gewichtige finanzielle Interessen. Wie Schweizer Medien berichten, kommen die Sterbehilfe-Vereine Exit, Eternal, Spirit und Dignitas zusammen mittlerweile auf einen Jahresumsatz von zehn Millionen Schweizer Franken.

Mit der Freigabe der Beihilfe zum Suizid werde jedenfalls eine gefährliche Entwicklung in Gang gesetzt. Wohin diese gesellschaftspolitisch führen kann: 965 Menschen mit Wohnsitz in der Schweiz hätten sich 2016 mittels Sterbehilfe-Organisationen das Leben genommen, fünfmal mehr Menschen als 2003. In den Niederlanden lag die Zahl der offiziell gemeldeten assistierten Suizide und Fälle von Tötung auf Verlangen im Jahr 2018 bei 6126,was mehr als 16 Todesfälle pro Tag ausmache.

In allen Stellungnahmen und Dokumenten der Katholischen Kirche wird die Würde des Menschen, die in der Berufung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott begründet ist, herausgestellt. Exemplarisch sei an dieser Stelle das Zweite Vaticanum zitiert: „Ein besonderer Wesenszug der Würde des Menschen liegt in seiner Berufung zur Gemeinschaft mit Gott.“ (vgl. 2. Vatik. Konzil, Gaudium et spes 19,1). An gleicher Stelle wird bemerkt, dass viele diese innigste und lebensvolle Verbindung mit Gott gar nicht erfassen oder sie ausdrücklich verwerfen.

Übertragen in die heutige Situation formuliert Elmar Nass: „Aus christlicher Sicht ist die Würde des Menschen begründet in der Gottesebenbildlichkeit jedes Menschen, unabhängig von Vernunftideen und -gesetzen. … Die Erlaubnis einer Tötung im Sinne eines assistierten Suizids öffnet zudem die Tür für ein Reden von einem lebensunwerten Leben.“ (Elmar Nass, „Deus Homo!“ LIT Verlag Dr. W. Hopf, Berlin 2020, 208-209)

Es stellt sich die Frage, ob jetzt eintritt, wovor Papst Franziskus 2017 warnte – einer „Wegwerfkultur im Gesundheitswesen“: Wenn Kranke und ihre Menschenwürde nicht geachtet würden, könne das sogar dazu führen, dass mit ihrem Leid finanziell „spekuliert“ werde. Politische und behördliche Entscheidungen dürften nicht nur „vom Geld geleitet“ werden, so Papst Franziskus an die Gesundheitskommission der Italienischen Bischofskonferenz (Ansprache vom 13.2.2017).

Vor 25 Jahren, am 25.3.1995, erschien die Enzyklika „Evangelium vitae“ über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. Bemerkenswert die Aussage, dass jeder Mensch – gleich ob gläubig oder nicht – den Wert des menschlichen Lebens erkennen kann: “Selbst in Schwierigkeiten und Unsicherheiten vermag jeder Mensch, der in ehrlicher Weise für die Wahrheit und das Gute offen ist, im Licht der Vernunft und nicht ohne den geheimnisvollen Einfluss der Gnade im ins Herz geschriebenen Naturgesetz (vgl. Röm 2,14-15) den heiligen Wert des menschlichen Lebens vom ersten Augenblick bis zu seinem Ende zu erkennen.“ (Papst Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae, 2) Die Anerkennung des Wertes des menschlichen Lebens, dem jeder Art von Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord entgegensteht, beruhe auf dem menschlichen Zusammenleben und dem politischen Gemeinwesen. (EV, 2,3)

Höchste Aktualität und eine Anfrage ist das Postulat, das Johannes Messner stellt, indem er das Recht auf das eigene Leben als eine Erfüllung der „existenziellen Zwecke“ des Menschen herausstellt. Dem Recht auf Leben widerstreitet die Vernichtung des Lebens – in jeder Phase, es gilt ebenso für die Euthanasie, die schmerzlose Tötung aus humanitären oder eugenischen Gründen. (Johannes Messner, Das Naturrecht, Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 4. unveränd. Auflage, Tyrolia Verlag, Innsbruck 1960, 388).

Ist es „von gestern“, in diesem Sinne die Würde des Menschen mit seinem Recht auf Leben, zu bekräftigen?

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