Höchste Gerichtsurteile ohne Moral: Zur Selbstbestimmung am Lebensende

Prof. Dr.Dr. Elmar Nass

Ethik am Lebensende müsse sich am obersten Prinzip der Selbstbestimmung orientieren. Damit hatte schon das BVerG in Deutschland im Frühjahr 2020 die kommerzielle Sterbehilfe – selbst bei nicht sterbenskranken Menschen – für rechtmäßig erklärt. Der Gesetzgeber muss nun die entsprechenden Gesetze (§ 217 StGB) nachjustieren. Gleiches Prinzip, etwas anderes Resultat in Österreich: In einem Urteil vom 11.12.2020 hält der VfGH am Verbot der Tötung auf Verlangen (§ 77 StGB) fest, ebenso wie an dem Verbot, jemanden zum Suizid zu verleiten (§ 78 1. Tatbestand). Das Verbot jeglicher Hilfestellung zum Suizid wird aber aufgrund eines zu weiten Eingriffs in das verfassungsrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht als verfassungswidrig abgelehnt (§ 78 2. Tatbestand).

Was aber ist eigentlich der ethische Gehalt solcher Selbstbestimmung, auf die sich die höchsten Richter so selbstverständlich berufen? Ethik beschäftigt sich mit Moral, also mit der Verantwortung des Menschen. Verantwortung aber gegenüber wem? Darauf muss jede ernstzunehmende ethische Position eine Antwort geben. Aus christlicher Sicht besteht sie biblisch begründet dreifach: gegenüber Gott, sich selbst und dem Nächsten. Daraus folgt, dass mein Körper eben nicht einfach nur mir gehört und ich mit ihm machen kann, was mir beliebt. Christliche Moral verlangt einen behutsamen Umgang mit meinem Leben, das mir von Gott geschenkt ist. Ich darf Organe oder Gliedmaßen nicht einfach verkaufen. Erst recht ist die Rückgabe des mir geschenkten Lebens die Sache Gottes und nicht des Menschen. Selbstbestimmung geschieht immer in diesem Bewusstsein von Demut und Geschöpflichkeit. Die kantische Autonomie meint ein Verhalten des Menschen entsprechend der Vernunftgesetze. Nur, wenn ich den Pflichten der kategorischen Imperative folge, bin ich wirklich autonom, frei und damit selbstbestimmt. Dazu im krassen Widerspruch steht ein menschliches Verhalten allein aufgrund von Wünschen ohne solche Pflichten. Und so kommt auch Kant zu einer strikten Ablehnung von Selbstmord und Euthanasie.

Christliche und kantische Ethik sind sich einig: (ganz abgesehen von den Folgen der Urteile für das Menschenbild und die damit wieder mögliche Rede von unwertem menschlichen Leben,) es gibt eine Ethik der Selbstbestimmung des Menschen nur in Verantwortung vor dem göttlichen Natur- oder dem Vernunftgesetz. Ohne solche Pflicht ist die viel gepriesene Selbstbestimmung ein Postulat ohne Ethik. Sie beschreibt nur ein Wünschen ohne Verantwortung und damit ohne Moral. Deshalb müssen die Urteile in Deutschland und Österreich gleichermaßen als moralfrei bezeichnet werden.

Ein Gedanke zu „Höchste Gerichtsurteile ohne Moral: Zur Selbstbestimmung am Lebensende

  1. Ihre Schlussfolgerungen sind für mich überzeugend. Sie bringen zum Ausdruck, was ich bisher nur ins Unreinen gedacht habe. Damit haben Sie bei mir für ein höheres Mass an Klarheit gesorgt. Dafür herzlichen Dank.

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